Liebe Uhrenfreunde,
gerade in den letzten Jahren hat sich ein Uhren-Typus ganz besonderer Beliebtheit erfreut: Die "Genta-Uhr". Was versteht man darunter? Im engeren Sinne ist das eine sportliche Stahluhr mit einem integrierten Stahlband, die von Gerald Genta entworfen wurde. Der Ursprung dieser Kategorie geht zurück auf die frühen 70er Jahre, als Genta gleich drei Ikonen gestaltete, zuerst natürlich 1972 die AP Royal Oak:
Die war mit ihrem oktogonalen Bullaugendesign damals eine Revolution und bezahlt bis heute den AP-Eignern die Dividende. Nachdem er das Thema "eckig" abgehakt hatte, kam dann 1976 die Variation "rund" hinzu:
Es gab da noch eine dritte Uhr, die war aber ein eher mutloser Zwitter mit runden Ecken, der hier keine gesonderte Erwähnung erfordert. Dieses Trio aus Royal Oak, Ingenieur und Nautilus sind also die "echten" Genta-Uhren der ersten Generation.
Aber schon damals gab es diverse Modelle, die diesen Design-Stil aufgegriffen haben und zumindest in ihrer Design-Sprache als "Genta-Uhren" zählen, auch wenn sie von anderen Designern stammen. Klassische Beispiele dafür sind die VC 222, die GP Laureato oder die IWC Yacht Club II:
Angetrieben vom riesigen finanziellen Erfolg aktueller Referenzen der Ur-Modelle, versuchen immer mehr Marken sich in der Kategorie der "Genta-Uhren" zu positionieren. Klassische Beispiele aus der jüngeren Zeit sind z.B. eine Piaget Polo S oder eine ML Aikon.
Und dann gibt es eine Uhrenlinie, die zu den wenigen wirklichen Innovationen der letzten Jahre gehört und zumindest in meinen Augen das Potenzial hat, in Jahrzehnten als eines der ikonischen Modelle der 2010er Jahre wahrgenommen zu werden, ähnlich wie eine RO heute für die 70er Jahre steht. Erstaunlicherweise ist dieses Modell Bulgari gelungen, die man doch weithin nur als Schmuckmarke wahrgenomment hat - vielleicht mit Ausnahme der Bulgari Bulgari, übrigens ein Design von Gerald Genta (man hätte es ahnen können).
Doch ist denn die Octo nun auch eine "Genta-Uhr"? Die Antwort ist ein klares: Jein
Das Internet ist ja nicht nur eine Quelle von Quatsch und Übel, sondern oft genug ein Hort von spannenden Hintergrundinformationen. Ich bin auch ein wenig bei unseren englischen Freunden von TZ-UK aktiv und stieß dort vor einiger Zeit auf einen sehr interessanten Faden zum Thema, wo ein Nutzer tatsächlich einmal die "wahre" Historie der Octo aus firmeninternen Quellen nachzeichnen konnte - wer es nachlesen möchte (von dort stammen auch die Fotos):
https://forum.tz-uk.com/showth…Watches-specifically-Octo
Es ist durchaus kompliziert: Gerald Genta war ja nicht nur ein Uhrendesigner sondern auch Namensgeber einer Uhrenmarke, die sich auf Super-Komplikationen spezialisert hatte. Eine der spektakulärsten Uhren war dabei die 1994 vorgestellte Gerald Genta Grande Sonnerie, die in den damals laufenden Wettbewerb um die komplizierteste Armbanduhr einstieg und die Kontrahenten IWC II Destriero Scafusia und Blancpain Grande Complication 1735 vom Thron stieß. Diese Uhren sehen sehr speziell aus, vorsichtig formuliert:
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesen Uhren:
https://watchesbysjx.com/2019/…enta-grande-sonnerie.html
Diese Uhr wird von manchem als die "Ur-Octo" gesehen, aber das braucht schon etwas Fantasie, zumal z.B. die Bandanstöße eher einer IWC Da Vinci ähneln (kein Genta-Design, sondern Hanno Burtscher).
Im Jahr 1998 wurde die Marke Gerald Genta dann nach Singapur verkauft, aber der Käufer Hour Glass reicht sie schon 2000 zusammen mit Daniel Roth an Bulgari weiter.
Im Jahr 2004 kommt dann die wirkliche "Octo" zur Welt - glaubt man dem Bulgari-Insider, wurde die Uhr vom Bulgari-Inhouse-Design-Team in Rom gestaltet, ohne dass Genta involviert war. Aber: Sein Name steht auf der Uhr, denn diese Modell-Linie wird unter der Marke Genta lanciert. Diese Uhren sahen z.B. so aus:
Die Designsprache ist unverkennbar der Urahn der heutigen Modelle. 2010 wurden dann die drei Uhrenmarken Daniel Roth, Gerald Genta und Bulgari unter der Bulgari-Marke zusammengefasst und die Octo kam als Bulgari-Uhr neu auf den Markt - immer noch ziemlich kompliziert:
Ein Jahr nach dem Tod von Gerald Genta folgte dann 2012 die schlichte Octo Solotempo in 41mm, zwei Jahr später kamen die kleine 38mm Version und die flache Finissimo auf den Markt, der Beginn einer echten Erfolgsstory.
Ist die Octo also eine "Genta-Uhr"? Von der Designsprache her: Ja. Von der Ursprungsmarke her: Ja. Vom Designer her: nein. Quasi eine Genta-Uhr, die als Genta (der Marke) verkauft wurde, aber nicht Genta (dem Designer) war.
Jetzt wird sich der geneigte Leser fragen, was denn der Anlass für diesen Ausbruch irrelevanten Detailwissens war? Der ist ganz profan - eine neue Uhr, die vor einiger Zeit den Weg vom anderen Ende der Welt (Japan) zu mir fand :
Eine wirklich geniale Uhr, die es schafft, in einem extrem dicht besetzten Segment herauszustechen - und das zu einem vergleichsweise fairen Preis. Das Design ist sicherlich nicht für jeden gemacht, aber es zeigt Mut und Können, das ist in der Kombination heute durchaus selten.
Gruß,
Christian
P.S.: Wenn es für jemanden etwas zu viele Ecken und Kanten sind, dann gibt es ja das Nachfolgemodell Octo Roma (hier vorgestellt von Walter (https://forum.watchlounge.com/index.php?thread/249365-bulgari-octo-roma-oder-warum-m%C3%BCssen-uhren-eigentlich-immer-rund-sein/) , wo das Urspungsdesign etwas "abgerundet" ist.