Mechanik für Anfänger: Aviator 3105, Teil 1/3

  • Für einen echten Uhren-Aficionado gehört es heute zum guten Ton, sich in den Metropolen dieser Welt auf eine Wartelisten setzen zu lassen, um wenigstens eine der so raren limitierten Uhren seiner Lieblingsmarke zu erhaschen. Und welch unbezahlbares Vergnügen und lehrreiche Erfahrung ist es, wenn einem die Geschäftsleitung bedauernd mitteilen lässt, dass man leider nicht für würdig genug befunden wurde. Schade, aber nächstes Mal vielleicht ... Das sind Momente, die unser Hobby so besonders machen. ;)


    OK: Für viele sind Rolex, Panerai, Patek, Audemars Piguet, Hublot, Herr Lange und seine Söhne oder die Glashütter Originalen Musikanten der Mittelpunkt der Welt. Tolle Uhren, klar. Exzellentes Marketing, keine Frage. Begehrenswert, ohne Zweifel. Aber will ich immer ein von pfiffigen Strategen erdachtes Image mit mir am Handgelenk tragen? Nicht unbedingt. Muss es immer höher, komplizierter, seltener sein? Auf gar keinen Fall! Und kennen wir nicht alle die bedauernswerten Hochfrequenz-Kauf-und-Verkauf-Uhrenliebhaber, die kaum die Zeit finden, sich an ihrem Neuerwerb zu erfreuen, weil der Jagdinstinkt bereits das nächste Ziel gewittert hat – besser, seltener, komplizierter, goldener .... und die eben erworbene Uhr schon wieder gehen muss. Man möge mich nicht falsch verstehen, aber was kommt danach? :grb:


    Glücklicherweise gibt es ja aber auch noch Uhren, die so überhaupt nicht zum besitzstandsanzeigenden Aushängeschild der horologischen Leidensfähigkeit taugen, die auch keine Laudatio auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihres Trägers halten oder gar so selten sind, dass ihr Besitzer von der UNESCO als Weltkulturerbe eingestuft wird. Uhren, die man nicht erjagt, sondern die einen finden oder die man zufällig findet. Uhren mit denen alles anfängt, oder die einem den Spaß an der Uhr zurückbringen. Uhren, die man einfach tragen kann, ohne gleich massive Wertverluste zu verursachen. :G


    Anmerkung des Autors: Ja, ich weiß, das Lesen längerer Texte ist für viele eine echte Herausforderung. SMS, ­WhatsApp, Ampellisten und Konsorten fordern ihren Tribut. Doch ich glaube an sie, verehrte Leserinnen und Leser, denn wer Mikrokratzer auf Bildern zu interpretieren weiß, Serviceblätter auf den ersten Blick zu erkennen vermag und Typografievarianten auf Datumsscheiben sicher im zeitgeschichtlichen Kontext einordnen kann, der schafft dass schon. Und wenn sie sich jetzt noch vorstellen, dass ich diese Zeilen mit einem breiten Grinsen und einer milden Ironie verfasse, sollte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Denn ich möchte – da bin ich sehr egoistisch – beim Schreiben Spaß haben. Und ich erfreue mich am Gedanken, dass es vielleicht den einen oder die andere gibt, denen ein paar handgedengelte Sätze Vergnügen und Kurzweil bereiten und mir darum vergeben, dass ich so schamlos opulent vor mich hin fabuliere.

  • La Chaux-de-Fonds – Ginza – Moskau: ein kleiner Schlenker
    Sprechen wir doch mal darüber, wie die Leidenschaft und das Interesse für mechanische Uhren seinen Anfang nehmen können. Ein Einstieg ins Thema mechanische Uhren führt neben Ginza und La Chaux-de-Fonds auch schon mal nach Moskau. Detlef Orzelski von CHRONOS – Gesellschaft der Uhrenfreunde e.V., hat einen interessanten Vortrag über „Russische Zeitgeschichte“ gehalten, den ich im Web auf den Seiten des Vereins gefunden habe und der den Autor Michael Ceyp als Quelle nennt.


    Der Link zur Seite mit den Vereinsvorträgen findet sich hier, Michael Ceyp: "Faszination Sowjetische Uhren: Frühe sowjetische Armband, Taschen- und Borduhren", "Faszination Russische Uhren. Von der Militäruhr bis zum Schiffschronometer."


    Orzelski zeichnet die Geschichte der russischen Uhrenproduktion nach und zeigt auch die Verbindung zur Schweiz auf. So schreibt er davon, dass teilweise Kaliber nachgebaut wurden, deren Produktion in der Schweiz bereits eingestellt worden war. Beispielsweise wurde aus dem Oris AS1475 das Poljot 2612.2 (Armbandwecker), aus dem Venus 150 entstand der Strela 3017 Schaltrad Chronograph, Favre-Leuba mutierte zum Slawa 2427 mit Doppelfederhaus und das Zenith 135 lebt im Wostok 2809 weiter. Kurz, ein interessanter Vortrag, der für die eigene Recherche vielleicht den einen oder anderen Anhaltspunkt liefern mag. :lupe: Doch zurück zum Thema.



    Mechanik für Anfänger: Aviator 3105; Handaufzug, kleine Sekunde
    Die Uhr, bei der ich für mich entdeckte, dass eine mechanische Uhr nicht unbedingt Swiss Made sein muss, war die Aviator 3105, eine Handaufzugsuhr im Fliegeruhrenlook mit kleiner Sekunde. Das Zifferblatt hat mich sofort gepackt, aufgeräumt, klar. Ja, man mag einwenden, so sehen alle Fliegeruhren aus. Stimmt, aber man kann bei den Proportionen trotzdem eine Menge Unsinn machen. Darauf haben die russischen Uhrmacher glücklicherweise verzichtet. So ausgewogene Proportionen findet man nicht immer. Und die Größe ist auch ganz kernig, ohne dabei klobig zu wirken, wie man sehen kann.



    Die Daten zur Uhr
    Watchtime.com sagt dazu im Datenblatt:
    Aviator (Volmax)
    Referenz: 3105-6975645
    Stahlgehäuse, 45 mm Durchmesser, 12,3 mm Höhe, 22mm Bandanstöße
    Wasserdichtigkeit 10 Bar/100 m
    Poljot 3105 Handaufzugswerk mit kleiner Sekunde
    Molnija 3105 Werk
    Flaches Mineralglas


    Das Glas ist tatsächlich flach, faszinierend ;)



    Was Watchtime nicht sagt, ist, dass die Uhr keine Datumsschnellverstellung besitzt. Man kurbelt also zwischen 20.00 Uhr und 01.00 Uhr zur Datumsverstellung hin und her. Das ist Vintage Feeling pur. Die korrekte Datumsanzeige an einer Uhr zu Informationszwecken wird heute sowieso völlig überbewertet. Weg mit dem Datum! ;)


    Das Werk selbst ist natürlich sehr, sehr, sehr schlicht. Ich habe dazu ein Bild bei Juri Levenberg, der die Seite www.molnija.eu betreibt, gefunden. Hier sieht man, was ich mit "schlicht" meine... :lupe:



    Bild des Kalibers 3105, Quelle http://www.molnija.eu/Juri Levenberg


    Da wird nicht so viel finissiert. :lol: Der Werkhaltering ist übrigens aus Plastik, hält aber. Der Tubus meiner Uhr war auch nicht immer so robust, wie er sein könnte – ich hatte schon mal das Vergnügen, das er ausgewechselt werden musste. Das Werk selbst ist aber ordentlich. Gut, um damit einfach alles zu machen – wenn man der Uhr verzeiht, dass das Datum gelegentlich mal hängt. Doch ernsthaft: Man darf nicht vergessen, dass die Uhr vor etlichen Jahren in der unter 250 € Liga gespielt hat. Heute liegt sie sicher preislich etwas höher und hat wahrscheinlich auch qualitativ gewonnen, aber darum geht es nicht.

  • Mein persönliches Fazit
    Für mich war diese Uhr einer meiner ersten Schritte in Richtung mechanischer Uhren. Die Uhr hat für mich einen eigenen Charme mit klarer Linie und kann damit durchaus optisch mit den Produkten aus der Schweiz mithalten. Will sagen: Ein aufgeräumtes Zifferblatt hat seinen eigenen Reiz, gleich in welcher Preislage sich der Hersteller bewegt. Und wenn ich auf meine Uhrenvergangenheit blicke, hat dieser Flieger durchaus einen bleibenden Eindruck hinterlassen.


    Anmerkung: Dass man in der Watchlounge nur kurze Texte schreiben kann, hat mich jetzt doch etwas überrascht. :lol:
    Ich hoffe, die Teilung in drei Abschnitte läßt sich ertragen. ;)


    All jenen, die bis hierhin mitgelesen haben: danke für das Interesse. :hut:
    Und hier noch ein paar Bilder: ;)



    Aviator an Nato-Band



    Omega Railmaster XXL an Nato-Band



    Aviator an Kaufmann-Lederband



    Das Band im Detail

  • Eindeutig das Beste, was ich seit einiger Zeit gelesen habe; ich bin sehr beeindruckt. :gut:
    Liegt vielleicht auch daran, dass ich mich zwischen/in den Zeilen wiederfinde.


    Ich gebe zu, ich habe die 3 Teile aufgrund der Neugier erst einmal überflogen, es folgt
    jetzt ein "in Ruhe" lesen!
    Ich sage meinen allerherzlichsten Dank für soviel Engagement bei der Gestaltung
    des Textes UND der Bilder, mein Lieber. :verneig:

  • Der Pöt hat endlich mal wieder zugeschlagen :gut: vielen Fank dafür, Frank, hat mir sehr viel Spaß gemacht zu lesen! :blume:

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    VG aus HH,
    Simon


    "Opinions are like assholes, everybody's got one!"

  • Ulli gefällt das! #ganzschönvieltext #cooleuhr #ironieistderhumorintelligentermenschen ;) ;) ;)


    Spaß beiseite: Vielen, vielen Dank, das Lesen hat großen Spaß gemacht :gut: Besonders bei den ersten Abschnitten habe ich mich ein bißchen ertappt gefühlt :rotwerd:


    Ich selbst habe dem Markenwahn übrigens kürzlich mit einer kleinen Seiko gegengesteuert. Sehr viel Uhrenspaß für wenig Geld :G


    Viele Grüße
    Ulli :hut: